Todesstrafe für die Gruppenvergewaltiger von Delhi – unvollständige Gerechtigkeit?

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Die vier Verurteilten

Aus dem englischen Original übersetzt von Jacqueline Knorr

Neun Monate nach der brutalen Vergewaltigung und Körperverletzung einer Universitätsstudentin in einem Bus in Delhi ist am 10. September 2013 ein indisches Gericht zu einem Schuldspruch gelangt. Es entschied, dass vier der sechs beteiligten Männer der Vergewaltigung und des Mordes schuldig sind und bekräftigte, dass es deren Vorsatz war, das Opfer zu töten. Das Gericht wies darauf hin, dass das Malträtieren ihres Körpers mit einer Eisenstange, der Rauswurf aus einem fahrenden Bus und der Versuch, sie zu überfahren, eine Tötungsabsicht darstellt.

Das Gericht hat die vier Männer am 13. September nach indischem Gesetz, welches die Todesstrafe in „den seltensten der seltenen Fälle“ erlaubt, zum Tode verurteilt.  Ein weiterer beteiligter Mann, derjenige, der die Eisenstange benutzt hatte und der brutalste der Bande war, wurde als Jugendlicher eingestuft und bekam dem indischen Recht entsprechend eine milde Strafe von dreu Jahren in einer Besserungsanstalt. Der sechste Mann, der im Gefängnis verstorben war, hatte augenscheinlich Selbstmord begangen. 

Dennoch bleiben Fragen offen. Und da sich dieser Fall von den unteren zu den oberen Gerichtshöfen bewegt, hoffen wir, dass die Öffentlichkeit und die Medien nach Antworten auf die unten aufgeführten, unbeantworteten Fragen drängen werden. 

Die Antworten auf diese Fragen sind aus zwei Gründen sehr wichtig:

1) Um sicherzustellen, dass dem Opfer volle Gerechtigkeit wiederfährt. Das bedeutet, dass alle, die von der Zeit des Vorfalls bis zum Zeitpunkt ihres Todes beteiligt waren, rechtlich für ihre Rolle zur Verantwortung gezogen werden.

2) Um sicherzustellen, dass dieser Fall wirklich ein Wendepunkt für eine größere Veränderung ist, die die sozialen, politischen, Straf-, Rechts- und Justizsysteme aufrüttelt, welche die eskalierende Gewalt gegen Frauen in Indien nicht nur tolerieren, sondern sie auch durch ungezügelte Frauenfeindlichkeit, Apathie und Korruption aufrechterhalten.

HIER SIND DIE FRAGEN:

1) ROLLE DER POLIZEI: Der männliche Freund des Opfers, der auch zusammen geschlagen wurde und der der einzige überlebende Augenzeuge in diesem Fall ist, hatte in späteren Interviews darüber berichtet, dass die Polizei 45 Minuten nach dem Hilferuf am Tatort eintraf. Er erzählte, dass die Polizeibeamten längere Zeit herumstanden und untereinander darüber diskutierten, welcher Bezirk für diesen Fall zuständig sei, während das Opfer auf der Straße lag und verblutete! Die Polizei hat dies unverfroren geleugnet. Wenn das Gericht die Aussage des Überlebenden bezüglich der Angeklagten akzeptiert, sollte es dann nicht auch seine Aussage über die Polizei akzeptieren? Ist es rechtlich nicht relevant, festzustellen, warum die Polizei die Zeugenaussage zurückgewiesen hat, warum die Beamten beim Anblick des Zustandes des Opfers nicht sofort einen Krankenwagen gerufen hat und warum das Opfer nicht in das am Nächsten gelegene Krankenhaus gebracht wurde? Hat diese Verzögerung eine Rolle hinsichtlich des Blutverlusts des Opfers und der Verschlechterung ihres Zustandes gespielt und hätte entsprechendes Handeln ihre Überlebenschancen beeinflusst?

2)  ROLLE DES KRANKENHAUSES: Im Krankenhaus wurden das Opfer und ihr Freund auf dem Boden des Krankenhauses abgeladen, wo sie lange ohne Kleidung lagen, blutend und der Kälte ausgeliefert, bevor sie medizinische Hilfe erhielten. Man gab ihnen noch nicht einmal eine Decke, mit der sie sich hätten zudecken können. Hat diese Verzögerung eine Rolle hinsichtlich des Blutverlusts des Opfers und der Verschlechterung ihres Zustandes gespielt und hätte entsprechendes Handeln ihre Überlebenschancen beeinflusst?

3) ROLLE DER POLITIK: Nachdem das Opfer operiert und stabilisiert worden war und gerade erst in der Lage war zu kommunizieren, wurde sie einer aufreibenden Polizeivernehmung ausgesetzt – zweimal! Beide Vernehmungen waren nahezu identisch und anscheinend wurde diese Doppelbefragung von einem Ego-Zusammenstoß zwischen verschiedenen Büros verursacht. Warum wurde das Opfer in ihrem kritischen Zustand dazu gebracht, ihre Aussage zu wiederholen, wenn doch eine Aussage ausgereicht hätte? Welche Auswirkungen auf ihren Zustand hatte diese Art Stress, der ihr so kaltschnäuzig auferlegt wurde?

4) ROLLE DER REGIERUNG: Das Opfer wurde gegen den Rat der Ärzte, die sie von Anfang an betreut hatten, in ein Krankenenhaus in Singapur verlegt. Reisen, vor allem Flugreisen, waren für jemanden in ihrem Zustand nicht anzuraten. Es wurde uns gesagt, dass dies nicht von ihren Ärzten entschieden worden war, sondern durch Regierungsbeamte. Warum war sich über den Rat des Ärzteteams, das sie ursprünglich stabilisiert hatte, hinweggesetzt worden? Wer sind die Behörden und Beamten, die direkt an dieser Entscheidung beteiligt waren und warum haben sie diese Entscheidung getroffen? Die Familie des Opfers ist arm und nicht gebildet und musste sich mit dem abfinden, was man ihnen erzählte. Was genau wurde der Familie gesagt? Hätte das Opfer eine wohlhabende Familie gehabt, die sich private Ärzte, starke Anwälte und Rechtsberater hätte leisten können, was wäre unter den gleichen Umständen geschehen?

5)  ROLLE DER KORRUPTION: Warum war der Angeklagte Ram Singh, der im Gefängnis scheinbar Selbstmord begangen hat, nicht in Einzelhaft unter Selbstmordbeobachtung verwahrt worden? Ram Singh hatte einen vorausgehenden kriminellen HintergrundEr hatte offenbar eine Frau belästigt und sie gezwungen, ihn zu  heiraten. Diese Frau wurde dann unter ungeklärten Umständen innerhalb eines Jahres umgebracht. Wie stehen die Chancen, dass ein solcher Soziopath Selbstmord begeht? Könnte Ram Singh ermordet worden sein, wie es seine Anwälte behauptet haben, weil er Informationen preisgeben wollte, die verschwiegen werden mussten? Wie konnte ein Mann mit einem solchen kriminellen Hintergrund eingestellt werden um diesen Bus zu fahren, der offenbar auch Schulkinder transportierte? Der Bus wurde mit Zulassungen betrieben, die illegal durch Transportbeamte ausgestellt worden waren und die Papiere für den Bus sind angeblich „verloren gegangen“? Wer war an der Vergabe der illegalen Lizenzen für diese Busse beteiligt?  Ist es nicht anhand des Musters dieses Angriffs, der Art und Weise wie das Paar in den Bus gelockt und dann angegriffen wurde, wahrscheinlich, dass in diesen Bus, wie vielleicht in viele weitere illegal betriebene Busse in der Stadt, bereits andere ahnungslose Frauen ähnlich gelockt und dann überfallen wurden? Aufgrund der kulturellen Barriere, des „Klassenschweigens“, ist es höchst unwahrscheinlich, dass betroffene Frauen, besonders wenn sie eine Hochschulausbildung haben, aus der Mittelklasse stammen und/oder arbeiten, solche Angriffe melden würden. Bei dem jüngsten Massenvergewaltigungsangriff auf eine Foto-Journalistin in Mumbai ist ganz klar, dass die „Bande“ es auch auf andere Frauen abgesehen hatte. Hätte Ram Singh im Delhi-Fall eine Aussage machen können, die dies bestätigt hätte? In welchem Rahmen waren der Polizei und den Betreibern des Busses diese Informationen bekannt?

5) ROLLE DER GERICHTE: Dieser Prozess zog sich trotz eines Schnellverfahrens über 9 Monate hin, bevor es zu einer Verurteilung kam und ein Urteil gesprochen wurde. Das war schon „schneller“ als die meisten Fälle in Indien, die sich über Jahre hinziehen. Einer der Gründe war die massive Mobilisierung der Öffentlichkeit sowie der nationalen und internationalen Medien, die ununterbrochen den Druck auf die Weiterführung dieses Falles aufrecht erhielten. Trotzdem können die indischen Gerichte schneller handeln! Dies wird zum Beispiel am Fall der Schweizer Touristin, die Mitte März in Indien vergewaltigt worden war, deutlich. In der Dunkelheit des Waldes, wo der Angriff Mitten in der Nacht geschah, konnte sie ummöglich die Gesichter ihrer Peiniger gesehen haben. Aber es wurden nicht nur alle Angreifer verfolgt und verhaftet, sie wurden auch innerhalb von nur 4 Monaten zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Warum also hat es im Delhi-Fall trotz Zeugenaussagen und Identifizierung der Vergewaltiger durch die beiden Opfer länger gedauert?

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ZUR ÜBERSETZERIN

Jacqueline Knorr ist vor 9 Jahen von Berlin in die Karibik ausgewandert und ist heute eine freischaffende Stewardess auf privaten Jachten in der Karibik und in Europa. Momentan ist sie unter anderem damit beschäftigt, ein schwimmendes Gästehaus auf St. Maarten zu bauen, um mit einem Teil des Profits das lokale Tierheim und andere Wohltätigkeitsorganisationen zu unterstützen.