Der folgende Text ist ein bearbeiteter Auszug aus einem Artikel von Rita Banerji, ursprünglich veröffentlicht im „Women’s News Network“. [Lesen Sie hier den vollständigen Artikel.]
Ein Bericht der UN-DESA (United Nations, Fachabteilung für sozialwirtschaftliche Angelegenheiten) aus dem Jahr 2012 beschäftigt sich mit den Sterblichkeitsraten von Neugeborenen und Kleinkindern im weltweiten Vergleich. Darin wird eine schockierende Tatsache ganz deutlich: Indien weist eine unnatürlich hohe Sterblichkeitsrate bei weiblichen Kindern der Altersgruppe von 1 bis 5 Jahren auf – weitaus höher als bei jedem anderen der 150 untersuchten Länder, von denen einige, z.B. die afrikanischen, weitaus ärmer sind als Indien!
Der Bericht zeigt, dass in Indien die Sterblichkeitsrate für ein Mädchen im Alter von 1 bis 5 Jahren um 75% höher liegt als bei einem Jungen der gleichen Alterskategorie. Auf 56 verstorbene männliche Kleinkinder im Alter von 1 bis 5 Jahren kommen demnach 100 weibliche Todesfälle. Statistisch betrachtet müsste die Relation umgekehrt sein. Üblicherweise haben Mädchen dieses Alters aufgrund biologischer Vorteile eine höhere natürliche Überlebensrate. Und so beläuft sich das Verhältnis in dieser Altersgruppe für den Rest der Welt auf 116 verstorbene Jungen zu nur 100 Todesfällen unter den Mädchen.
Was verursacht diese alarmierend hohe Todesrate bei Indiens kleinen Mädchen??
Laut einem in 2011 veröffentlichten Untersuchungsbericht, aus „Archives of Pediatrics and Adolescent Medicine“, einer Zeitschrift für Kinder- und Jugendheilkunde, besagt eine gemeinschaftliche Studie des „Indian Council of Medical Research“ und der „Harvard School of Public Health“ , dass die unnatürlich hohe Sterblichkeitsrate von Mädchen in Indien auf die vorherrschende häusliche Gewalt zurück zu führen ist, die sich gezielt gegen weibliche Personen richtet, nicht aber gegen den männlichen Nachwuchs!
Foto von Zuhair Al-Traifi ©
In den betroffenen Familien waren es dem Bericht nach nicht nur erwachsene Frauen, die durch häusliche Gewalt ums Leben kamen, sondern Mädchen gleichermaßen. Von 1985 bis 2005 gesammeltes Datenmaterial zu Lebendgeburten in Indien macht deutlich, dass 1,2 Mio. der in diesem Zeitraum geborenen Mädchen bereits als Säuglinge getötet wurden. Weitere 1,8 Mio. wurden getötet, bevor sie das 6. Lebensjahr erreicht hatten!!! Somit wurden von den innerhalb dieser 20 Jahre geborenen Mädchen 3 Millionen getötet, bevor sie 6 Jahre alt waren.
Diese Studie bestätigt, dass Mädchen ein deutlich höheres Risiko haben, an häuslicher Gewalt zu sterben, als Jungen. Während bei Mädchen im Altern von 1 bis 5 Jahren die Wahrscheinlichkeit aufgrund häuslicher Gewalt zu sterben um 21 % höher liegt als bei Jungen im selben Alter, liegt sie bei weiblichen Säuglingen bis zu ihrem ersten Geburtstag sogar 50% höher als bei den männlichen.
Der Leiter dieser Untersuchungen, Dr. Jay Silverman, äußerte sich abschließend: „Wenn du in Indien als Mädchen in eine Familie geboren wirst, in der deine Mutter misshandelt wird, verringert das deine Chancen, deine frühe Kindheit zu überleben, beträchtlich. Schockierenderweise ist diese Gewalttätigkeit aber keine Bedrohung für dein Leben, wenn du das Glück hattest, als Junge zur Welt zu kommen.“
Foto von Joel Dousset ©
Eine weitere Methode Indiens kleine Mädchen aus der Welt zu schaffen ist die bewusste und jeglichem Missbrauch gleichkommende Vernachlässigung elterlicher Pflichten. Ein Untersuchungsbericht der UNICEF hatte 2007 festgestellt, dass bei Mädchen unter 5 Jahren die Sterblichkeitsrate 40 Prozent höher war als die gleichaltriger Jungen. So lassen Familien ihre Töchter absichtlich hungern, verweigern ihnen Nahrung entweder gänzlich oder geben ihnen die Überreste, sollten die männlichen Familienangehörigen etwas übrig gelassen haben. Bei Erkrankungen der Mädchen, lassen Familien die Töchter oft lieber sterben als Geld für medizinische Versorgung auszugeben.
Das Töten weiblicher Säuglinge hat eine lange Tradition in Indien und erschreckenderweise hat jede Region ihre eigene, gebräuchliche Art, wie das Ertränken des Neugeborenen in einem Eimer Milch, das Füttern mit Salz oder das Begraben des lebenden weiblichen Säugling in einem tönernen Topf. In den Familien der Mittel- und Oberschicht jedoch finden sich noch hinterhältigere Tötungsmethoden. Oft wird ein Unfall als Todesursache vorgetäuscht, oder das Herbeiführen „natürlicher“ Erkrankungen, um polizeilicher Verfolgung zu entgehen.
In einer von der indischen Registierungsbehörde veranlassten Studie, die 2010 in der medizinishen Zeitschrift “The Lancet,” veröffentlicht wurde, kam ein merkwürdiger Umstand ans Tageslicht: In Indien sterben Mädchen im Alter von 1 Monat bis 5 Jahren 4 bis 5-mal häufiger an Lungenentzündung und Durchfallerkrankungen als gleichaltrige Jungen.
Aber warum sterben die Mädchen ausgerechnet an diesen 2 Krankheiten?
Foto von Akash Banerjee ©
Die schockierende Antwort findet man in einer Beobachtung der indischen Autorin Gita Aravamudan, wie beschrieben in ihrem 2007 erschienenen Buch „Disappearing Daughters“ (direkte Übersetzung: „Verschwindende Töchter“). Während ihrer Besuche in den Regionen Indiens, in denen weibliche Säuglingsmorde auf der Tagesordnung stehen, machte Aravamudan die Erfahrung, dass die gängig verwendeten Tötungsmethoden sich durchaus schnell entlarven lassen und daraufhin eine polizeiliche Überführung eingeleitet werden kann. „[Um eine Verhaftung zu vermeiden] ersinnen Familien noch qualvollere Mordpraktiken [für weibliche Kleinkinder]…“ Das Hervorrufen einer Lungenentzündung war die moderne Methode. Das Neugeborene wurde entweder direkt nach der Geburt, oder wenn es vom Krankenhaus nach Hause gebracht wurde in ein feuchtes Tuch gehüllt oder in kaltes Wasser getaucht. Nach einigen Stunden, falls es noch am Leben war wurde der Säugling zu einem Arzt gebracht der die Lungenentzündung feststellte und die entsprechenden Medikamente verschrieb. Diese warfen die Eltern jedoch postwendend in den Abfall. Wenn dann das kleine Geschöpf schlussendlich gestorben war, hielten die Eltern ein ärztliches Attest in Händen, dass eine „gewöhnliche“ Lungenentzündung nachwies. In anderen Fällen wurden weibliche Säuglinge an einen Alkoholtropf gehängt, um künstlich schweren Durchfall zu induzieren – eine weitere „attestierbare Erkrankung“.
Karishma mit 2 Jahren, Foto von Rita Banerji ©
Als Gründerin der Kampagne „50 Million Missing“, die darauf hinarbeitet, ein weltweites Bewusstsein für den anhaltenden, systematischen Völkermord/Geschlechtermord am weiblichen Geschlecht in Indien zu schaffen, sind mir solche Umstände nur zu vertraut. Vor 2 Jahren hat sich unsere Aktion in den Fall eines kleinen Mädchens namens Karishma eingeschaltet, dessen Familie sich ihrer entledigen wollte und zahlreiche Versuche unternommen hatte, sie zu töten. Lesen Sie Karishmas Geschichte hier.
Die Fotos in diesem Beitrag sind von Mitgliedern der Kampagne „50 Million Missing“. 2400 Fotografen aus der ganzen Welt unterstützen den „50 Million Missing“-Fotopool auf flickr. Um weitere Arbeiten der einzelnen Fotografen zu sehen, klicken Sie auf die Fotos um zu den entsprechenden Seiten des jeweiligen Fotografen zu kommen.
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